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Lesediagnostik

Leseflüssigkeit diagnostizieren

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Leseanfänger*innen, aber auch schwache Leser*innen in den höheren Jahrgangsstufen lesen häufig langsam, stockend, unbetont und verlesen sich oft, ohne es zu bemerken. Ihnen fehlt es an Leseflüssigkeit und sie verfügen somit nicht über ausreichende mentale Kapazitäten für das Textverstehen.

 

Inhalt

Gerade diese Kinder brauchen Feedback, um ihre Fortschritte auf dem mühsamen Weg des Lesenlernens wahrnehmen zu können. Um förderorientiert Rückmeldung geben zu können, muss man sich zunächst darüber klar werden, was müheloses und routiniertes Lesen ausmacht: Leseflüssigkeit (Lesegeläufigkeit; readingnfluency) ist die Fähigkeit zum schnellen, genauen, automatisierten und sinngestaltenden Lesen.

Man braucht verschiedene Verfahren, um alle Dimensionen der Leseanfänger*innen, aber auch schwache Leser*innen in den höheren Jahrgangsstufen lesen häufig langsam, stockend, unbetont und verlesen sich oft, ohne es zu bemerken. Ihnen fehlt es an Leseflüssigkeit und sie verfügen somit nicht über ausreichende mentale Kapazitäten für das Textverstehen

Lesegeschwindigkeit erfassen

Sicher kennen Sie folgende Situation aus Ihrem Schulalltag: Sie geben Ihrer Klasse den Auftrag, einen Text zu lesen. Da meldet sich nach kurzer Zeit das erste Kind und verkündet "damit durch zu sein", während andere gerade einmal die erste Texthälfte bewältigt haben. Die Lesegeschwindigkeit ist das offensichtlichste Merkmal, worin sich gute von weniger guten Leserinnen unterscheiden. Studien zeigen, dass in allen Jahrgangsstufen lesestarke Schülerinnen etwa doppelt so schnell lesen wie die leseschwachen.

Im Allgemeinen ist für das Textverstehen das Erreichen einer Mindestgeschwindigkeit bedeutsam, denn das Arbeitsgedächtnis kann Inhalte nicht lange speichern. Wer also noch langsam Buchstabe für Buchstabe entziffert, hat am Ende des Satzes den Anfang wieder vergessen.

Diese Mindestgeschwindigkeit – gemessen in Wörtern pro Minute (WpM) – beträgt laut Cornelia Rosebrock und Daniel Nix 100 Wörter pro Minute beim lauten Lesen und wird von ihnen als "magische Verstehensgrenze" bezeichnet. Ein Wert unter den 100 WpM gilt als ungünstig für das Textverstehen, da in diesem Fall das Arbeitsgedächtnis zu stark belastet ist. In den ersten Schuljahren sind Werte von unter 100 WpM der Normalfall, hier sind die Texte aber einfacher und die Sätze kürzer, sodass die Texte insgesamt auch bei einer niedrigeren Lesegeschwindigkeit verstanden werden können. Gegen Ende der Volksschule sollte sich die Geschwindigkeit beim lauten Lesen im Idealfall dem normalen Sprechtempo angleichen, also Werte zwischen 90 und 120 WpM erreichen. Beim leisen Lesen sind Werte über 150 WpM ein gutes Ziel, das aber nicht von allen erreicht wird. In diesem Fall muss auch in den folgenden Schuljahren an der Lesegeschwindigkeit gearbeitet werden.

Aufgrund der Bedeutsamkeit der Lesegeschwindigkeit für das flüssige Lesen wurden etliche Testverfahren entwickelt, die Leseflüssigkeit über diesen Indikator messen. Ein besonders praxistaugliches Messinstrument ist das Salzburger Lese-Screening.

Bei diesem standardisierten Test sind die Schülerinnen aufgefordert, innerhalb von drei Minuten so viele Sätze wie möglich leise zu lesen und dabei pro Satz zu markieren, ob die Aussage richtig oder falsch ist. Anhand der korrekt markierten Sätze wird anschließend mithilfe der Normtabellen ein Lesequotient ermittelt. Bei geringem Zeitaufwand erhalten Sie so verlässliche Informationen über die Lesegeschwindigkeit Ihrer Schülerinnen. Die dazu verwendeten Normtabellen basieren auf einer großen Vergleichsgruppe. Wenn Sie sich beispielsweise bei der Übertrittsberatung unsicher sind, kann es hilfreich sein, die Leistungen des betreffenden Kindes mit denen Gleichaltriger zu vergleichen.

 

Wörter-pro-Minute-Lesen

Ebenso ökonomisch im Einsatz, aber flexibler auf die jeweilige Lerngruppe angepasst und kostengünstiger, lässt sich die Lesegeschwindigkeit ermitteln, indem man einen Text mit angemessenem Schwierigkeitsniveau für die jeweilige Jahrgangsstufe eine Minute lang laut vorlesen lässt und die Zahl der gelesenen Wörter notiert. So erhält man den WpM-Wert. Die Lesegeschwindigkeit in WpM kann nun mit den Ergebnissen einer US-amerikanischen Studie von Jan Hasbrouck und Gerald Tindal (2005) verglichen werden:

Lesegeschwindigkeit nach Jahrgangsstufen nach Hasbrouck/Tindal (2005)

Lesegeschwindigkeit nach Jahrgangsstufen nach Hasbrouck/Tindal (2005)

 

Genauigkeit und Automatisierung des Dekodierens erfassen

Das Lesetempo hängt entscheidend davon ab, wie exakt dekodiert wird. Damit ist gemeint, inwieweit das Gelesene mit der Textvorlage übereinstimmt. Schwachen Leser*innen unterlaufen häufiger sinnentstellende Fehler, die meist unbemerkt bleiben und das Textverstehen beeinträchtigen.

Aber nicht nur die Genauigkeit des Dekodierens ist entscheidend für das Lesetempo. Um ausreichend schnell lesen zu können, muss das Dekodieren automatisiert ablaufen, also unbewusst, mühelos und ohne Stocken. Jene Wörter, die ohne bewusstes Entschlüsseln gelesen und verstanden werden, bilden den sogenannten Sichtwortschatz. Schwächere Leser*innen verfügen über einen kleineren Sichtwortschatz. Sie müssen die meisten Wörter erst mühsam entziffern und aussprechen, um sie zu erkennen. Vergleichbar ist dies mit den ersten Fahrversuchen im Auto: Muss man sich anfangs noch auf die einzelnen Vorgänge wie Blinken, Kuppeln, Schalten oder Lenken konzentrieren, bewältigt man diese Fertigkeiten mit ausreichender Übung ohne bewusste Anstrengung.

Die Fähigkeit, Wörter ohne Fehler lesen zu können beziehungsweise Verlesungen selbst zu bemerken, erfasst man am besten während des Wörter-pro-Minute-Lesens, und zwar indem alle Lesefehler auf einer Textkopie markiert werden. Als Fehler gelten dabei Ersetzungen (zB Hand statt Hund), Auslassungen (zB der Hund statt der kleine Hund) oder Lesepausen, die länger als drei Sekunden dauern. Wenn Schüler*innen Wörter wiederholen (zB der der Hund statt der Hund) oder Lesefehler selbst korrigieren, zählt dies nicht als Fehler.

Auf diese Weise ermittelt man das Ausmaß der Korrektheit des Lesens, die sich dann mithilfe folgender Formel in einer Prozentzahl angeben lässt:

Formel zur Ermittlung der Dekodiergenauigkeit nach Timothy Rasinski (2003)

Formel zur Ermittlung der Dekodiergenauigkeit nach Timothy Rasinski (2003)

 

Erreichen die Schülerinnen einen Wert unter 90 Prozent, ist ein Textverständnis kaum möglich. Bei Werten über 95 Prozent kann ein Text ohne Unterstützung gut verstanden werden. Dementsprechend sind Leserinnen mit Werten zwischen 90 und 95 Prozent in der Lage, einen Text mit entsprechender Hilfestellung zu lesen.

Möglicherweise stellt sich Ihnen nun die Frage, was der zusätzliche Aufwand für die Berechnung der Dekodiergenauigkeit nützt, wenn doch die Ermittlung des Lesetempos bereits aussagekräftige Ergebnisse liefert. Aber vielleicht haben Sie schon folgende Beobachtung gemacht: Insbesondere schwache Leser*innen in der Sekundarstufe tendieren dazu, zur Vertuschung der schlechten Leseleistung so schnell wie möglich zu lesen. Dies führt jedoch zu einer höheren Fehlerquote, die allein durch den WpM nicht erfasst werden würde. Ein hohes Lesetempo muss nicht automatisch einhergehen mit einer entsprechenden Dekodiergenauigkeit.

 

Sinngestaltende Betonung erfassen

Auch die Fähigkeit, einen Text mit Ausdruck und sinngestaltend vorlesen zu können, liefert wertvolle Hinweise für die Leseförderung. Wenn etwa ein Kind im Bereich der Lesegeschwindigkeit sowie der Dekodiergenauigkeit gute Ergebnisse erzielt, es aber dennoch Probleme beim Beantworten von Inhaltsfragen hat, lohnt sich ein gezielter Blick auf die Intonation, also den sprecherischen Ausdruck, und auf die Phrasierung, also wie das Gelesene segmentiert wird.

Gute Leserinnen setzen passende Pausen, gliedern den Satz in zusammengehörende Wortgruppen und betonen inhaltstragende Wörter wie Subjekt und Objekt. Dabei berücksichtigen sie Hinweise in Satzbau und Orthografie wie beispielsweise die Satzendzeichen. Dies gelingt schwachen Leserinnen nicht. Sie tragen aufgrund ihrer Probleme beim Textverständnis typischerweise monoton und Wort für Wort vor, was das Textverstehen weiter behindert. Kindern, die mit der deutschen Schriftsprache noch nicht vertraut sind, fällt das aktive Strukturieren der Sätze besonders schwer.

 

Fazit

Jedes Verfahren hat seine Vor- und Nachteile. Entscheidend ist, im Schulalltag unterschiedliche Varianten zu nutzen. Konkret bietet es sich beispielsweise an, das Salzburger Lesescreening einmal zu Beginn und einmal gegen Ende des Schuljahres einzusetzen. Insbesondere wenn es um weitreichende Entscheidungen wie etwa um einen Schulübertritt geht, stellen standardisierte Verfahren eine solide Informationsquelle dar.

Um auch im Verlauf des Schuljahres den individuellen Lernfortschritt der Schüler*innen genau verfolgen zu können, sollte in regelmäßigen Abständen – etwa vor, während und nach einer Trainingsmaßnahme – der WpM zusammen mit der Dekodiergenauigkeit ermittelt werden. Auf diese Weise lässt sich die Effektivität der Leseflüssigkeitsförderung im Unterricht überprüfen. Die etwas zeitaufwendigere Intonationsdiagnostik empfiehlt sich als Ergänzung im Einzelfall.

All dies trägt dazu bei, ein möglichst differenziertes Bild über die Leseflüssigkeit Ihrer Schüler*innen zu erhalten, auf dessen Basis förderorientiertes Feedback gegeben und passende Maßnahmen zur Steigerung der Leseflüssigkeit geplant werden können. (gekürzte Fassung eines Textes von Maria Steinert)

 

Buch-Tipp:

Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung

Von: Cornelia Rosebrock und Daniel Nix

Erschienen im Schneider Verlag

Hohengehren 2008

ISBN: 978-3-834-01778-9

Preis: € 16,30

Maria Steinert

Maria Steinert

ist Grundschullehrerin und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Regensburg.

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