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Leseprobleme erkennen

Lesediagnostik

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PRIM, SEK 1

Stellen Sie sich vor, Sie gehen zum Arzt, weil Sie immer wieder unter Atemnot leiden. Dieser unterhält sich mit Ihnen, lässt Sie dann einmal ein- und ausatmen und kommt zu dem Ergebnis, dass Sie mehr Sport machen sollen. Sie erklären ihm, dass sie ja gerade dabei schnell kurzatmig werden, aber er bleibt bei seiner Meinung.

Inhalt

Sie fragen ihn, welchen Sport und wie oft, mit welcher Belastung und mit welchen Geräten geeignet sei, und er meint, das sei nicht so entscheidend. Sicher würden Sie den Arzt wechseln, weil er Ihnen nicht helfen kann.

Kinder und Eltern können die Lehrkraft nicht wechseln, wenn es dieser nicht gelingt, die richtigen Fördermaßnahmen bei Leseschwierigkeiten zu ergreifen. Nicht selten raten Lehrkräfte Eltern, mit ihren Kindern doch mehr „Lesen zu üben“. Auf konkrete Nachfragen wie „Was und wie lange soll mein Kind lesen?“ und „Was genau kann mein Kind eigentlich nicht?“ gibt es keine passenden Antworten. Was diesen Lehrkräften fehlt, ist diagnostische Kompetenz gepaart mit dem Wissen um effektive Fördermaßnahmen für unterschiedliche Kompetenzniveaus.

Diese Situation ist nicht verwunderlich, denn „Diagnostik“ war – im Gegensatz zur Ausbildung von Ärztinnen – lange Zeit kein Gegenstand der Lehrerausbildung. Erst nachdem die PISA-Studie 2000 den Lehrenden schlechte Diagnosekompetenzen attestiert hatte – da sie die Testleistungen einzelner Schülerinnen schlecht vorhersagen konnten – wurde dieser Kompetenz in der Folge auch in der Wissenschaft mehr Aufmerksamkeit geschenkt.

Diagnostische Professionalität ist besonders im Hinblick auf zwei zentrale Aufgaben der Schule wichtig: Zum einen kommt der Schule mit ihrer Selektionsfunktion die Aufgabe zu, Übertrittsentscheidungen zu treffen und den Schüler*innen durch (Abschluss-)Zeugnisse die Eignung für Ausbildungs- oder Studienplätze zu attestieren. Diese Beurteilungen haben Auswirkungen auf das Leben von einzelnen Kindern und Jugendlichen und sollten gerecht und vergleichbar sein. Zum anderen brauchen Lehrkräfte aber auch für den täglichen Unterricht diagnostische Kompetenzen, um Lernprozesse überwachen und optimieren zu können. Eine individuelle Lernstandsdiagnostik bildet die Grundlage für den Einsatz passgenauer Aufgaben und Fördermaterialien.

Diagnose bedeutet dabei im Grunde nichts anderes als das Beschaffen und Analysieren von Informationen zur Beurteilung von Schülerleistungen. Das kann durch den Einsatz von standardisierten Testverfahren, aber auch durch informelle, selbst erstellte Tests oder die qualitative Analyse von Schülerleistungen erfolgen. Die Ergebnisse können durch eine aufmerksame Unterrichtsbeobachtung oder Gespräche mit Kolleginnen ergänzt werden. Das mit der Diagnostik jeweils verbundene Ziel liefert die Kriterien für die Auswahl des passenden Verfahrens: Hinsichtlich des Unterrichtsbezugs können selbst erstellte Tests auf die jeweilige Klasse und die konkreten Unterrichtsinhalte abgestimmt werden. Das heißt, man kann überprüfen, ob das angestrebte Lernziel erreicht wurde. Solche informellen Diagnoseleistungen, wie sie etwa in Schularbeiten erstellt werden, sind für den Unterricht unverzichtbar, wegen ihrer Fehleranfälligkeit jedoch problematisch, insbesondere wenn es „um etwas geht“. Im Fall einer Übertritts- oder Berufswahlempfehlung sollten sie durch formelle Diagnoseverfahren, etwa standardisierte Tests, ergänzt werden. Sie erfassen auf der Basis eines theoretisch begründeten Konzepts, etwa von „Lesekompetenz“, grundlegende Fähigkeiten, die dann wiederum mit den Ergebnissen einer größeren Vergleichsgruppe verglichen werden können. Auch um festzustellen, wie die eigene Klasse im Vergleich mit Schülerinnen gleichen Alters abschneidet, bieten sich deshalb standardisierte Verfahren an.

Jedes Verfahren hat seine Vor- und Nachteile. Entscheidend ist, beide Varianten professionell nutzen zu können. 

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Diagnostizieren – eine facettenreiche Kompetenz

Geht man von einem naiven Verständnis von Lesekompetenz aus, könnte man meinen, mit ein paar Fragen zu einem Text lasse sich diese gut erheben. Wie jede komplexe Tätigkeit besteht Lesen jedoch aus unterschiedlichen Teilkompetenzen, die zum Teil voneinander unabhängig sind, zum Teil jedoch aufeinander aufbauen.

Zunächst geht es darum, dass Schüler*innen eine ausreichende Leseflüssigkeit entwickeln. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass das Arbeitsgedächtnis nicht mehr primär mit dem Entziffern beschäftigt ist, sondern die enthaltenen Informationen auch in ihrem Zusammenhang verstanden werden. Wer zu langsam liest, hat am Ende des Satzes vergessen, was am Anfang stand. Erst wenn eine bestimmte Lesegeschwindigkeit erreicht ist, gelingt es, Zusammenhänge zwischen Sätzen (lokale Kohärenz) herzustellen oder eine Vorstellung von der Aussage des Textes und den darin enthaltenen Informationen zu entwickeln (globale Kohärenz).

Um Informationen richtig einordnen zu können, greifen erfahrene Leser*innen auf Superstrukturen zurück, etwa auf Wissen über Textsorten und ihre prototypischen Strukturen. Besonders anspruchsvoll ist es in der Regel, Darstellungsstrategien (wie etwa eine Metapher) zu durchschauen.

Eine gute Lesediagnostik erfasst idealerweise alle diese unterschiedlichen Dimensionen. Dafür sind jedoch verschiedene Instrumente nötig. So lässt sich die Leseflüssigkeit durch Leseflüssigkeitstests wie das Salzburger Lesescreening oder das Minutenlesen erfassen. Lokale oder globale Kohärenz können durch Multiple-Choice-Tests erfasst werden, die Aufgaben auf den verschiedenen Ebenen anbieten. So sind Fragen nach Informationen, die wörtlich im Text stehen, einfacher zu beantworten als Fragen, deren Antworten nicht wortwörtlich im Text zu finden sind. Fragen nach dem, was ein Text erreichen will, zielen darauf ab, die Superstruktur eines Textes zu erkennen. Bei metaphorischen Ausdrucksweisen können verschiedene plausible „Übersetzungen“ angeboten werden, aus denen die richtige gewählt werden muss. Dies erfordert den Gesamtzusammenhang, in dem etwa eine Metapher steht, zu verstehen und auch Nuancen der Bedeutung zu erfassen.

Gelingt es, durch die Wahl des geeigneten Testverfahrens oder deren Kombination, herauszufinden, was die Schüler*innen schon können und wo sie noch Probleme haben, können die entsprechenden kognitiven Prozesse (siehe Abbildung unten „Entscheidungsbaum“) gezielt gefördert werden. So kann die Automatisierung der Buchstaben-, Wort- und Satzerkennung in der Regel durch Lautleseverfahren verbessert werden. Klappt dies nicht, dann muss überprüft werden, ob Prozesse des Schriftspracherwerbs wiederholt werden müssen, etwa die Graphem-Phonem-Zuordnung.

Ist die Leseflüssigkeit gut entwickelt, aber mit dem Verstehen der Texte klappt es noch nicht so gut, kann gezielt mit Strategietrainings gearbeitet werden. Dass ein Text nicht gut verstanden wird, könnte aber auch daran liegen, dass der individuelle Wortschatz eines Kindes nicht ausreichend entwickelt ist und dieses die Wörter deshalb zwar erlesen kann, aber deren Bedeutung nicht kennt – oder nicht so genau kennt, dass es sie mit dem entsprechenden Kontext verknüpfen kann. Eine Maßnahme, die hier helfen kann, ist das regelmäßige Vorlesen mit sich anschließenden Gesprächen, in denen über verschiedene Begriffe gesprochen wird. Für den Wortschatzerwerb sind literarische Texte gut geeignet, weil sie einen breiten Alltagswortschatz aufweisen, der immer wieder in anderen Texten vorkommt.

Entscheidungsbaum zur Diagnose und Leseförderung

 

Der individuelle Wortschatz der Kinder hat große Auswirkungen auf die Entwicklung der Lesekompetenz und kann die Leseleistung des einzelnen gut vorhersagen. Hat man keinen Wortschatztest zur Verfügung, sollte man Kindern im Unterricht immer wieder Gelegenheit geben, die Bedeutung von Wörtern zu erklären. So erlangt man eine Einschätzung darüber, wie ausgeprägt der Wortschatz eines Kindes ist. Ähnliches gilt für die Lesevorlieben und Leseinteressen von Kindern und Jugendlichen. Wie die "Harry-Potter-Welle" gezeigt hat, sind viele Volksschüler*innen in der Lage, dicke Bücher zu bewältigen, wenn sie es wollen. Um Lesevorlieben und Leseinteressen zu ermitteln, kann man einen selbst entwickelten Fragebogen einsetzen, intensive Gespräche über Bücher führen oder einen Blick auf die Bücher werfen, die Kinder sich freiwillig aus der Bibliothek ausleihen.

Da Lesen zu lernen ein mühsamer Prozess ist, der Kindern – und zum Teil noch Jugendlichen – viel abverlangt, sollte ihnen dieser durch Inhalte erleichtert werden, die den jeweiligen Interessen und Vorlieben entgegenkommen. Trifft man mit der Lektürewahl die Interessen und macht das Lesen Spaß, entwickeln Kinder positive Erwartungen bezüglich des Lesens, etwa, dass sie mit den Figuren mitfiebern können oder dass sie lachen oder sich entspannen können. Das wiederum begünstigt auch das Entstehen einer intrinsischen Lesemotivation, die dafür sorgt, dass Kinder oft und gerne zum Buch greifen und Lesen als eines ihrer Hobbys bezeichnen. Studien wie PIRLS oder PISA stellen den Schülerinnen Fragen, die sowohl auf ihre Lesemotivation als auch auf ihr lesebezogenes Selbstkonzept schließen lassen. Ein solches haben Kinder, die sich selbst als Leseratten sehen oder sich für gute Leserinnen halten. Damit möglichst viele ein positives lesebezogenes Selbstkonzept aufbauen können, sollten Konkurrenzsituationen und Wettbewerb beim Lesen vermieden werden. Werden Programme wie Antolin so eingesetzt, dass die Kinder vergleichen, wer wie viele Punkte erreicht hat, werden nur die Spitzenreiter ein positives Selbstkonzept entwickeln können, während die Rückmeldung an die anderen ist, dass sie hier nicht konkurrenzfähig sind. Solche Situationen sollte man als Lehrkraft vermeiden und vielmehr dem einzelnen Kind zurückmelden, wie und in welchem Bereich es sich verbessert hat.

Weder an den individuellen Veranlagungen noch am sozialen Kontext, aus dem Ihre Schüler*innen kommen, können Sie etwas ändern. Mit dem Schuleintritt haben wesentliche Spracherwerbsprozesse bereits stattgefunden. Kinder, denen vom ersten Lebensjahr an täglich vorgelesen wurde, verfügen über einen großen Wortschatz und ein breites Weltwissen, sie kennen komplexe syntaktische Strukturen und wissen über den Aufbau von Textarten und typische Handlungsverläufe Bescheid. Das so entstehende bildungssprachliche Wissen ist nicht nur für die Entwicklung des Lesens eine entscheidende Grundlage, sondern ebenso für viele weitere Kompetenzen wie das Schreiben oder Sprechen. Der soziale und kulturelle Kontext prägt entscheidend die sprachliche Entwicklung.

Gerade weil dies so ist, spielen Sie als Lehrkraft für viele Kinder eine ganz entscheidende Rolle als Lesevorbild und Lesemodell. Je sensibler Sie wahrnehmen, mit welchen sprachlichen, leseprozessbezogenen, motivationalen, sozialen oder kulturellen Schwierigkeiten ein Kind zu kämpfen hat, desto besser sind Sie in der Lage, eine passende leseanregende Umgebung für dieses Kind zu schaffen und passende Fördermaßnahmen auszuwählen. Diagnostik bezieht sich also nicht nur auf das "Testen" kognitiver Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern auch auf das Erkennen weiterer Einflussfaktoren auf die Leseentwicklung.

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Fazit

Diagnosekompetenz stellt eine anspruchsvolle Aufgabe der Lehrkraft dar und setzt Wissen über die unterschiedlichen Ebenen von Lesekompetenz voraus, ebenso wie einen Überblick über verschiedene Testinstrumente und ihren jeweiligen Einsatz und die Interpretation der Ergebnisse. Dies schließt auch mit ein, dass nach der Auswertung eines Lesetests die richtigen Schlüsse hinsichtlich der Fördermaßnahmen gezogen werden können. Und nicht zuletzt ist ein wesentlicher Teil der diagnostischen Kompetenz, dass man einen Blick für das "ganze" Kind behält, mit seinen individuellen Vorerfahrungen und Fähigkeiten sowie seinem sozialen und kulturellen Hintergrund.

Die Komplexität dieser Anforderungen zeigt, dass sich die Diagnosekompetenz einer Lehrkraft durchaus mit der Professionalität der ärztlichen Diagnose vergleichen lässt. Im Kontext Schule geht es nicht um Leben oder Tod, aber durchaus darum, wie der Lebensweg von Kindern im Weiteren verläuft.

(Dies ist eine gekürzte Fassung eines Textes von Anita Schilcher.)

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Anita Schilcher

Anita Schilcher

Die Professorin hat den Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Regensburg inne. Derzeit ist das größte Forschungsprojekt am Lehrstuhl das Projekt FiLBY (Fachintegrierte Leseförderung Bayern).

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