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Storytelling

Die Kunst des Erzählens

article Beitrag

Unser Leben lang sind wir umgeben von Geschichten. Geschichten helfen uns, dem, was wir erleben und dem, was uns widerfährt, Sinn zu verleihen, Ereignisse in einen Zusammenhang zu stellen. Durch die Geschichten, die über uns erzählt werden und die wir über uns erzählen, entwickeln wir ein Verständnis über uns selbst.

Inhalt

Doch wie steht es um das Erzählen in der Schule? Während Kinder in den ersten Schuljahren zumeist noch viel erzählen (dürfen), gilt das Hauptinteresse ab der 3. und 4. Schulstufe und besonders in der Sekundarstufe der schriftlichen Erzählung. Ab der 7. Schulstufe verschwinden Erzählungen von Schüler*innen oft ganz aus dem Unterricht und machen Platz für argumentative Darstellungsformen.

In diesem Beitrag steht die Kunst des Erzählens im Mittelpunkt: Was macht eine gute Erzählung aus? Lässt sich das Erzählen lernen, lässt es sich lehren? Welche Aufgaben fördern die Erzählfähigkeiten von Kindern und Jugendlichen? Wie können Geschichten in verschiedenen Fächern das Lernen unterstützen?

 

Was heißt es, etwas zu erzählen?

Das Erzählen erlebte in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance. Professionelle Erzähler*innen treten in Museen, Bibliotheken und in Gefängnissen auf, vielerorts finden Erzählkongresse statt. Immer schon spielten Geschichten in der Psychotherapie, in Religion und Philosophie eine wichtige Rolle. Unter der Bezeichnung Storytelling – eigentlich nur das englische Wort für Erzählen – wird die besondere Kraft von Geschichten für die Vermarktung von Produkten jeglicher Art genützt. Im alltäglichen Zusammenhang werden zumeist persönliche Erlebnisse erzählt, die Erzählung ist in Gespräche eingebettet. 

Eine Erzählung ist eine komplexe, über die Grenze einzelner Äußerungen hinausgehende Einheit in einem Gespräch, die mindestens eine*n Erzähler*in und eine*n Zuhörer*in hat (Ohlhus & Stude, 2012, 471). Ein*e Sprecher*in erhält für eine bestimmte Zeit ein Rederecht, indem er oder sie z. B. mit der Formulierung „Kennst du den schon?“ einen Witz ankündigt oder eine Erzählung mit „Stell dir vor, was mir neulich passiert ist ...“ einleitet, oder es kann von anderen – zum Beispiel mit der Frage, wie es denn im Urlaub war – initiiert werden. 

Erzählungen sind bei aller Unterschiedlichkeit nach bestimmten Mustern gestrickt. Eine Erzählung hat ihren Ausgangspunkt in den meisten Fällen von einem Ereignis, das von Erwartetem abweicht, dem so genannten Planbruch oder auch Konflikt, bei einem Witz oder einer Anekdote spricht man von der Pointe. Zuerst wird eine Ausgangssituation geschildert, aus der sich ein Ereignis in unerwarteter Weise abhebt. Dies löst verschiedene Aktivitäten bzw. Bewältigungsversuche der Akteur*innen aus. Durch Zeitknappheit, Aktivitäten von Widersachern und/oder gescheiterte Lösungsversuche kann Spannung entstehen (Behrens, 2022, S. 107). Erzählungen können aber auch der Argumentation und Wissensvermittlung dienen und sind dann auch anders aufgebaut. Oft sind Erzählungen chronologisch organisiert, Rückblenden und Vorausdeutungen müssen entsprechend – z. B. durch die Verwendung unterschiedlicher Zeitformen – sprachlich markiert werden. Gute Erzählungen machen ein Ereignis für Zuhörende lebendig und nachvollziehbar. Das gelingt z. B. durch bestimmte Zeitadverbien (auf einmal, plötzlich), direkte Reden oder die Zeitform Präsens. Nicht jede Erzählung lässt sich dem in der Schule häufig angeleiteten Typ der Höhepunkterzählung zuordnen, die Geflechterzählung ist ein weiterer Typus. Diese hat eine offenere Struktur, lässt ein Nebeneinander zu und ist eher dialogisch konzipiert.

Erzählungen dienen dem Bedürfnis, sich selbst und Erfahrungen mitzuteilen und auszudrücken, Beziehung herzustellen, Erlebnisse zu verarbeiten, sie sollen Zuhörende unterhalten oder auch informieren. Eine Erzählung ist immer eine Erzählung für jemanden und fordert zu einer Rückmeldung auf. Erzählungen lösen Freude, Erstaunen, Erleichterung oder Anteilnahme aus, sie können Erheiterung, Angst oder Grusel bei Zuhörenden erzeugen. 

 

In der Schule würde ich das nie erzählen!

Erzählen findet normalerweise in einem persönlichen Kontext und in dialogischer Form statt, beides ist in der Schule kaum gegeben und kann auch schwer simuliert werden. Die Kommunikation im Unterricht ist größtenteils gesteuert. Dazu kommt der Verdacht, dass mündliche Beiträge von Schüler*innen bewertet werden. 

So wird zum Beispiel das verbreitete Ritual des wöchentlichen Erzählkreises von Expert*innen kritisiert. Im Gegensatz zum alltäglichen Erzählen, bei dem es um die Anteilnahme an und das Verarbeiten von Erlebtem geht, geht es bei dieser Form oft um die Profilierung gegenüber Klassenkolleg*innen oder der Lehrperson; häufig wird keine Geschichte erzählt, sondern Wichtiges und weniger Wichtiges werden mehr oder weniger nur aufgezählt. Erzwungene Erzählungen gelingen selten, wenn z. B. reihum jedes Kind vom Wochenende erzählen soll. Wenn Mitschüler*innen aufgefordert werden, nur zuzuhören, fällt überdies ein wesentlicher Aspekt des Erzählens weg: die Möglichkeit, dass Zuhörende eine Geschichte mit-erzählen und die Erzählenden durch Nachfragen oder Ergänzungen unterstützen.

Manche Spannungsfelder sind im schulischen Feld nicht völlig aufzulösen. Umso wichtiger ist es, darauf zu achten, dass Erzählanlässe durch die Situation motiviert und Erzählanreize an Situationen gekoppelt sind und in diese eingebettet werden. Eine Atmosphäre des Vertrauens und der Wertschätzung ist Voraussetzung, damit Kinder und Jugendliche gern erzählen. Stille- und Zuhörübungen stimmen auf die Situation ein. Die Anregung, auch Erstsprachen einzubinden bzw. sprachliche Codes zu wechseln, hilft, Redehemmungen abzubauen. Letztlich können Lehrer*innen darauf vertrauen, dass Kinder die grundsätzlichen Regeln des Erzählens kennen und dass es vor allem darum geht, ihren Erzählungen Raum zu geben. 

 

Wer in die Schule kommt, kann schon sprechen …

Nicht zuletzt sind es bestimmte Überzeugungen (nicht nur) von Lehrpersonen, die verhindern, dass mündlichem Erzählen im Unterricht gebührende Aufmerksamkeit zukommt. Diese wurden z.B. in der Studie von Nadine Nell-Tuor, die 2014 200 Lehrpersonen in der Schweiz zur Bedeutung von Mündlichkeit befragt hat, deutlich. Ulrike Behrens [2022] ergänzt diese Überzeugungen durch einige weitere, die sie nicht nur bei Lehrpersonen als verbreitet ansieht. Einige dieser Annahmen sollen im Folgenden genannt und in Frage gestellt werden.

 

  • Schriftlichkeit ist wichtiger als Mündlichkeit

Im Unterricht der Volksschule haben Kinder, die ja noch Schwierigkeiten haben, ihre Geschichten aufzuschreiben, noch öfter Gelegenheiten, zu erzählen, sie nehmen sich diesen Raum auch immer wieder. Doch spätestens ab der Sekundarstufe steht vor allem das schriftliche Erzählen im Vordergrund, bevor das Erzählen womöglich ganz aus dem Unterricht verschwindet. Für alle Schulstufen gilt: Erzählen wird kaum gezielt geübt, die Verbesserung der erzählerischen Fähigkeiten steht selten im Fokus des Unterrichts. Oft wird mündliches Erzählen nur als Vorstufe oder Hinführung zum schriftlichen gewertet. Später geht es zumeist um Präsentationen und Referate, um Diskussionen und Argumentation. 

 

  • Wer gut schreiben kann, kann auch gut sprechen

Mündliche Kommunikation zeichnet sich durch ganz spezifische Merkmale aus, die sich von geschriebenen Texten unterscheidet, wie z. B. die Einbettung in einen Gesprächskontext, an dem mehrere beteiligt sind und miteinander in verschiedenen Formen interagieren oder der Einsatz mimischer und gestischer Mittel beim Erzählen. Mündliche Erzählungen lassen sich also nicht so ohne Weiteres in schriftliche übertragen. Deshalb ist es wichtig, dass Schriftliches schriftlich und Mündliches mündlich erarbeitet und geübt wird und auch die Unterschiede zwischen beiden Modi der Kommunikation thematisiert werden (Behrens, 2022, S. 19).

Für die mündliche Kommunikation gelten andere Regeln als für die schriftliche. Der Appell „Sprich in ganzen Sätzen!“ ist in diesem Zusammenhang nicht unbedingt sinnvoll. In Gesprächssituationen werden auch unvollständige Sätze verstanden (Behrens, 2022, S. 21). Doch nicht allein der Modus entscheidet über die Sprachverwendung, man kann deshalb zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und konzeptioneller Schriftlichkeit unterscheiden. Eine Nachrichtensprecherin im Fernsehen oder Radio bietet die Nachrichten zwar mündlich dar, aber die Sprachverwendung ist konzeptionell schriftlich. 

 

  • In der Schule darf man nicht sprechen, wie „einem der Schnabel gewachsen ist“

Schulische Kommunikationspraxis unterscheidet sich von der Alltagskommunikation der meisten Schüler*innen. Bei manchen Kindern kann diese Differenz zu Verständigungsschwierigkeiten führen, sowohl beim Zuhören und Verstehen als auch beim Sprechen. Wenn Kinder sich durch die Sprachverwendung der Lehrperson nicht angesprochen fühlen, steigt die Hemmschwelle, sich zu Wort zu melden. Quasthoff (2012) ortet eine „Schriftsprachfixiertheit“ von Lehrpersonen und eine mangelnde Passung der Sprachpraxis vieler Kinder mit den Erwartungen der Lehrpersonen. Dies kann bis zum Ausschluss aus der Unterrichtskommunikation führen. Womöglich könnte manche angebliche „Lernverweigerung“ dadurch erklärt werden. Umgekehrt zeigen Studien, dass ein soziolektal oder dialektal geprägtes Sprachverhalten von Schüler*innen bei Lehrpersonen zu bestimmten Einstellungen und Erwartungen hinsichtlich ihrer Intelligenz und schulischen Leistungsfähigkeit führt (Steinig & Huneke, 2015, S. 76). Wir wissen auch, wie wirkmächtig solche Erwartungen und Zuschreibungen nach Art einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung sein können.

Lehrpersonen sollten deshalb ihre impliziten Normvorstellungen von Mündlichkeit reflektieren. Studien haben nämlich gezeigt, dass das Sprachverhalten in sozialen Unterschichten nicht defizitär ist, sondern sich durch eine eigene Logik und besondere Eigenschaften auszeichnet (Behrens, 2022, S. 69). Gleichzeitig ist es wichtig, alltagssprachliche Kommunikation von Kommunikation in formelleren, offizielleren Situationen zu unterscheiden. Letztere erfordern ein anderes Sprachrepertoire, das auch in der Schule erworben und geübt werden kann und soll. Um Unterschiede aufgrund der Herkunft von Kindern auszugleichen, ist die Vermittlung standardsprachlicher Fähigkeiten wohl einer der Schlüssel. Ein Ziel des Unterrichts sollte sein, dass Schüler*innen über ein breiteres Repertoire an sprachlichen Registern verfügen und diese je nach Situation und Redeabsicht angemessen einsetzen können. 

 

Buch-Tipp

 

 

Mündliche Kompetenzen im Deutschunterricht. Sprechen und Zuhören als Bildungsaufgabe 

Von: Ulrike Behrens

Erschienen bei Klett Kallmeyer 2022

ISBN: 978-3-7727-1637-9 

 

 

Warum ist es wichtig, das Erzählen im Unterricht zu fördern?

Auch wenn der schulische Kontext sich vom Erzählen im Alltag in vielfacher Weise unterscheidet, gibt es viele Gründe, dem Erzählen im Unterricht einen gebührenden Platz einzuräumen, und zwar in allen Fächern. Hier sollen nur einige davon genannt werden:

  • Indem Kinder und Jugendliche sich ausdrücken können und dadurch wahrgenommen werden, indem ihre Erlebnisse wichtig genommen und angehört werden, wird die Identitätsbildung gefördert. Außerdem können Kinder Erfahrungen, das, was sie beschäftigt oder auch bedrückt, verarbeiten und reflektieren.
  • Im Erzählen und Zuhören werden neben sprachlichen auch soziale Fähigkeiten, wie Empathiefähigkeit und Perspektivenwechsel eingeübt; das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe wird gestärkt.
  • (Eigene) Geschichten können neu und anders erzählt werden, übernommene, herkömmliche Erzählinhalte und -muster können überschritten und Gegengeschichten entwickelt werden: Dadurch werden nicht nur Kreativität und Schöpfergeist gefördert, sondern auch (gesellschaftliche) Zuschreibungen und Stereotypisierungen überwunden.
  • Im Erzählen werden Gedanken geklärt und geordnet, Geschichten fördern das Denken und die Gewinnung von Erkenntnissen, sie erleichtern das Verständnis, auch für komplexe Inhalte, sie haben das Potenzial, Interesse und Neugierde bei den Lernenden zu wecken.
  • Beim Erzählen üben sich Schüler*innen darin, zeitliche Abfolgen – sowohl das Nacheinander als auch Gleichzeitigkeit - angemessen darzustellen. Dies ist eine Fähigkeit, die wohl in mehreren Fächern und Bereichen gefordert ist (Dannerer, 2016, S. 43). 
  • Gute Geschichten wecken nicht nur Emotionen bei den Zuhörenden, sondern stellen auch eigene oder fremde Gefühle nachvollziehbar dar. Die Fähigkeit, Emotionen sprachlich zu fassen, ist ein wesentlicher Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung.
  • Beim Erzählen üben Schüler*innen sich darin, zwischen konzeptioneller Mündlichkeit (z. B. in direkten Reden) und Schriftlichkeit zu variieren, verschiedene sprachliche Register anzuwenden und dadurch ihr Repertoire zu erweitern.

Was braucht es, um gut erzählen zu können?

 Kinder erwerben Erzählfähigkeiten schon lange vor der Einschulung und entwickeln diese ständig weiter. Die Entwicklung verläuft von einer Phase der assoziativen Verknüpfung einzelner Äußerungen über eine Strukturierung der Ereignisse in einer zeitlichen und linearen Abfolge bis zu Erzählungen mit einem strukturellen Zentrum in Form eines Planbruchs oder Konflikts. Erst dann ist von einem im Wesentlichen bewältigten Erzählerwerb zu sprechen, den die meisten Kinder bis zum Ende der Grundschulzeit erreichen. Doch werden die Fähigkeiten später noch weiter ausgebaut, vor allem werden die Fähigkeiten der sprachlichen Markierung und Kontextualisierung verfeinert und auf unterschiedliche Erzählgenres und -muster angewandt (Ohlhus & Stude, 2012, S. 474).

Drei Aufgaben sind es, die an Erzählende gestellt werden – diese Aufgaben betreffen im Übrigen jeden Sprechakt (Quasthoff, 2012, S. 88; Ohlhus & Stude, 2012, S. 472): 

1. Kontextualisierung: Es muss für alle Beteiligten klar sein, wann eine Erzählung anfängt und wann sie endet, wer erzählt und wer zuhört. Außerdem ist wichtig, zu erkennen, wann und wie eine Erzählung passend platziert ist.

2. Vertextung: An eine Erzählung werden ganz bestimmte Erwartungen gestellt, zum Beispiel die Organisation der Erzählung um ein unerwartetes Ereignis, einen so genannten Planbruch oder einen Konflikt. Der Aufbau einer Erzählung folgt häufig dem Muster der Anbahnung des Planbruchs, seiner Ausgestaltung und einer Auflösung.

3. Sprachliche Markierung: Dabei geht es um die sprachliche Umsetzung, die Verwendung bestimmter Formulierungen, die anzeigen, dass es sich um eine Erzählung handelt, die auch anzeigen, was der Planbruch ist oder auch deutlich machen, ob zum Beispiel ein eigenes Erlebnis oder eine fantastische Geschichte erzählt wird.

 

Monika Dannerer (Dannerer, 2016, S. 16–21) differenziert diese Aufgaben noch weiter aus:

  • Ein*e Erzähler*in rekonstruiert den realen oder fiktiven Ablauf eines Geschehens.
  • Er oder sie bringt Ereignisse in eine nachvollziehbare, klare zeitliche Abfolge: Es war einmal, dann, nun, nach ein paar Wochen, zum Schluss ...
  • Er oder sie orientiert über Raum und Bewegungen: ... lebten in einem Schloss, kamen in eine Stadt …
  • Jede Erzählung sollte sich auf ein erzählwürdiges Ereignis beziehen: Ich muss dir mal was erzählen ...
  • Die/der Erzähler*in erzählt etwas Unerwartetes, das häufig spannend gestaltet ist.
  • Eine Erzählung ist adressat*innengerichtet, will z.B. unterhalten, beeindrucken oder Anteilnahme erwecken; sie ist daher expressiv und oft emotional. Eine lebendige Wirkung kann z. B. durch wörtliche Rede, Anschaulichkeit durch eine treffende Redeeinleitung und Emotionalität durch konnotative (emotional aufgeladene) Wortwahl erreicht werden.

Kann man Erzählen lernen und lehren?

Sprache ist nur begrenzt aneigenbar und beherrschbar, Sprechen und Zuhören sind Akte, die wir nie ganz kontrollieren können. Das zeigt sich zum Beispiel dann, wenn es uns manchmal die Stimme verschlägt oder wenn wir durch unsere eigene Rede überrascht werden. Trotz dieser Einschränkungen ist es möglich, das Erzählen zu üben und die Erzählfähigkeiten von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Dazu gibt es grundsätzlich drei Wege: das Gespräch mit (erwachsenen) Zuhörer*innen, das Lernen von Modellen und die direkte Instruktion.

1. Beim Erzählenlernen kommt (erwachsenen) Zuhörer*innen eine entscheidende Bedeutung zu. Beobachtungen von Gesprächssituationen zwischen Kindern und Erwachsenen zeigten, dass diese durch Paraphrasieren, Vermutungen anstellen und Nachfragen, zum Beispiel, wenn etwas Wichtiges im Ablauf fehlt, oder auch durch Widerspruch und gestisch-mimische Reaktionen Kinder dazu animieren, ihre Erzählungen zu strukturieren und an Zuhörererwartungen anzupassen (Quasthoff, 1987; 2003; Steinig & Huneke, 2015, S. 80). Auf diese Weise lernen Kinder, zu erzählen; man kann von einer intuitiven Didaktik des Erzählens sprechen. Daraus ergibt sich für schulische Kontexte, dass es zum Beispiel sinnvoll ist, Gespräche zu zweit oder in kleineren Runden zu ermöglichen, sodass Zuhörende sich einbringen und durch Nachfragen Impulse geben können. Insbesondere bieten sich altersheterogene Gruppen an, sodass ältere Schüler*innen die Rolle von erwachsenen Zuhörer*innen übernehmen können.

2. Darüber hinaus orientieren sich Kinder an Modellen, also an Erzählungen anderer oder auch an literarischen Vorbildern. Das Lesen, Vorlesen und Erzählen von Geschichten durch die Lehrperson ist für die Ausbildung der erzählerischen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen äußerst bedeutsam. Solche Modelle können nachgeahmt und variiert werden. Hilfreich sind vorgegebene Erzählschemata oder Satzanfänge oder der Einsatz von Bildern, Gegenständen oder Geräuschen als Impulsgeber*innen. 

3. Im schulischen Kontext kommen als dritter Erwerbsweg explizite Anleitungen dazu, wie – zumeist geht es um schriftliche Erzählungen - eine Erzählung verfasst werden soll. Diese sollten unbedingt durch Hilfestellungen und Anregungen für mündliches Erzählen ergänzt werden, ohne jedoch zu enge Vorgaben zu machen und womöglich nur bestimmte Realisierungen zuzulassen. Zwar können bestimmte wiederkehrende Formeln und sprachliche Bausteine (z. B. Es war einmal im Märchen) mit Schüler*innen – anhand von Modellen oder direkter Anleitung – eingeübt werden, doch besteht die Kunst des Erzählens vor allem in der gekonnten Variation bestimmter Strukturen und sprachlicher Mittel (Dannerer, 2016, S. 43).

Zu diesen drei Wegen kommt ein vierter: die Reflexion über eigene und fremde Erzählungen. Schüler*innen sollten immer wieder dazu angeregt werden, sich über Erzähltes und Gehörtes Gedanken zu machen und auszutauschen. 

 

Was hat es mit dem Begriff Storytelling auf sich?

Storytelling ist eigentlich nur das englische Wort für Erzählen. Eigentlich, denn dieser Begriff steht auch für eine Marketingstrategie, wird als Methode in der Organisations- und Teamentwicklung und in Rhetorik- und Präsentationstrainings eingesetzt. Die besondere Kraft von Geschichten wird für die Vermarktung von Produkten jeglicher Art genützt. Eine anschauliche und lebendig erzählte Story kann besser überzeugen und bleibt besser im Gedächtnis als es eine bloße Information je tun könnte. Sie weckt Emotionen, signalisiert Vertrautheit und Beziehung und bietet Zuhörenden Identifikationsmöglichkeiten. Gute Geschichten betten Wissen in einen Kontext ein, liefern mehr als reine Fakten und ermöglichen Zuhörer*innen, sich einzufühlen und die Geschichte nachzuerleben. Diese Effekte von Geschichten konnten Neurowissenschafter*innen sogar nachweisen. Zum Thema Storytelling ist in den letzten Jahrzehnten eine nahezu unüberschaubare Zahl an Publikationen erschienen, die Eingabe des Begriffs bei einer Suchmaschine ergibt 590 000 000 Ergebnisse. Expert*innen geben Tipps, wie eine gute Geschichte gestaltet werden sollte. Hier ein Beispiel: 

  • Sagen Sie es einfach!
  • Werden Sie konkret!
  • Überraschen Sie!
  • Zielen Sie auf das Gefühl!

Eine andere Anleitung enthält folgende Empfehlungen: die Sinne ansprechen, durch Vergleiche und Bilder anschaulich erzählen, Symbole und ihre Bedeutungen nutzen, sich eine Kernbotschaft überlegen und ein Aha-Erlebnis bewirken, indem man Anliegen und Fragen der Zuhörenden aufgreift (Masemann, 2017, S. 176-189). Werden solche Tipps nicht als Kochrezepte beziehungsweise Regelwerke verstanden, können sie durchaus hilfreich sein. 

 

Buch-Tipp

 

Improvisation und Storytelling in Training und Unterricht

Von: Sandra Masemann 

Erschienen bei Beltz 2017

ISBN: 978-3-407-36626-9

 

Lehren und Lernen durch Erzählungen

„Man kann Schülerinnen und Schülern im Physikunterricht mitteilen und begründen, dass das Phänomen der magnetischen Missweisung (Deklination) abhängig von der geographischen Position (genaugenommen der geographischen Breite) des beobachteten Kompasses ist – eine nüchterne geometrische Folgerung. Es ist aber etwas anderes, wenn man Kolumbus selbst in wenigen Zeilen berichten lässt, wie ihn als hervorragenden Navigator der Schrecken überkam, als während seiner ersten Entdeckungsreise die damals bekannte östliche Abweichung der Kompassnadel zunächst verschwand und sich im weiteren Verlauf der Fahrt sogar in eine westliche wandelte.“ (Kasper, 2011, S. 165)

Erzählungen sind in fast allen Fächern sinnvoll einsetzbar. Vielleicht erinnern auch Sie sich noch heute an so manche Geschichte, die Ihren Ihre Lehrer*innen erzählt haben. Nicht nur Geschichtelehre*innen sind oft gute Erzähler*innen. Gute Geschichten überzeugen, reißen mit und veranschaulichen Lerninhalte. Sie wecken Interesse und Neugierde der Schüler*innen mehr als eine (nüchterne) Erklärung es tun könnte. Außerdem prägen Geschichten sich besser ein. Also: Finden und sammeln Sie gute Geschichten oder erfinden Sie welche. Erzählen Sie von eigenen Erfahrungen und persönlichen Erlebnissen. Erzählen Sie!

Literatur

Becker, T. & Stude, J. (2017). Erzählen. Universitätsverlag Winter.

Behrens, U. (2022). Mündliche Kompetenzen im Deutschunterricht. Sprechen und Zuhören als Bildungsaufgabe. Klett/Kallmeyer.

Dannerer, M. (2016). Erzählungen (und) erzählen ... vom Spracherwerb im Längsschnitt. In B. Hinger (Hrsg.), „Zweite Tagung der Fachdidaktik“ 2015. Sprachsensibler Sach-Fach-Unterricht – Sprachen im Sprachunterricht. Innsbrucker Beiträge zur Fachdidaktik 2 (S. 13–49). innsbruck university press. Online unter: https://www.uibk.ac.at/iup/buch_pdfs/zweite-fachdidaktik/10.152033122-51-2-3.pdf (31.10.2022)

Hanke, J. D. (2020). Wirkungsvoll kommunizieren. Storytelling, Körpersprache, Auftritt. Begleitbuch zum Videoseminar der Zeit-Akademie. Leseprobe erhältlich unter: https://www.zeitakademie.de/wp-content//uploads/2020/10/WK-Begleitbuch-Leseprobe.pdf (31.10.2022)

Honnef-Becker, I. & Kühn, P. (2019). Sprechen und Zuhören im Deutschunterricht. Bildungsstandards – Didaktik – Unterrichtsbeispiele. Narr.

Kasper, Lutz (2011). Die inszenierte Kontroverse. Erzählen und Lernen über Naturwissenschaften. In O. Hartung; I. Steininger & T. Fuchs (Hrsg.), Lernen und erzählen interdisziplinär (S. 159–170). Springer Verlag.

Masemann, S. (2017). Improvisation und Storytelling in Training und Unterricht. 2. Aufl. Beltz.

Moser-Pacher, A. & Steinweg, R. (2011). Die „dritte Sache“ in den menschlichen Beziehungen. Warum das mündliche Erzählen, auch in der Schule, gut tut und verändernd wirkt. In ide 3, S. 8–18. StudienVerlag.

Ohlhus, S. & Stude, J. (2012). Erzählen im Unterricht der Grundschule. In M. Becker-Mrotzek (Hrsg.),   (Hrsg.), Mündliche Kommunikation und Gesprächsdidaktik. Bd. 3 der Reihe Deutschunterricht in Theorie und Praxis. Handbuch zur Didaktik der deutschen Sprache und Literatur (2. Aufl.) (S. 471–486). Schneider Verlag.

Quasthoff, Uta (2003). Entwicklung mündlicher Fähigkeiten. In: U. Bredel, H. Günther, P. Klotz, J. Ossner, G. Siebert Ott (Hrsg.), Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. 1. Teilband (S. 107–120). Schöningh.

Quasthoff, Uta; Fried, L.; Katz-Bernstein, N.; Lengning, A.; Schröder, A. & Stude, J. (2011). (Vor-)Schulkinder erzählen im Gespräch: Kompetenzunterschiede systematisch erkennen und fördern. Schneider Verlag Hohengehren.

Quasthoff, Uta (2012). Entwicklung der mündlichen Kommunikationskompetenz. In M. Becker-Mrotzek (Hrsg.), Mündliche Kommunikation und Gesprächsdidaktik. Bd. 3 der Reihe Deutschunterricht in Theorie und Praxis. Handbuch zur Didaktik der deutschen Sprache und Literatur (2. Aufl.) (S. 84–100). Schneider Verlag.

Rabelhofer, Bettina (2011). Geschichten vom Ankommen und Vagabundieren. Erzählen und Identität. In ide 3, S. 19–26. StudienVerlag.

Schapp, W. (2004). In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding (4. Aufl.). Klostermann Seminar.

Steinig, W. & Huneke, H.-W. (2015). Sprachdidaktik Deutsch. Eine Einführung. (= Bd. 38 der Reihe Grundlagen der Germanistik, hrsg. von C. Lubkoll, U. Schmitz, M. Wagner-Egelhaaf, K.-P. Wegera.) 5. Aufl. Erich Schmidt Verlag.

Gabriele Rathgeb

Gabriele Rathgeb

Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Tirol im Bereich Deutsch und Mehrsprachigkeit. Gabriele Rathgeb war mehr als 20 Jahre Deutschlehrerin an einer AHS und ist in der Aus- und Fortbildung von Deutschlehrpersonen tätig. Die Themen Zuhören und Sprechen, Lese- und Schreibdidaktik gehören zu ihren Schwerpunkten.

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