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Drama gibt es immer
Manu aus der 3b hat Stress. Sie hockt am Mädchenklo und schluchzt, als ob die Welt untergehen würde. Alles ist richtig scheiße. Ihre Freundin holt mich aus der Klasse. Als Lehrkraft – und das ist nicht übertrieben – ist man nicht nur Lehrerin: Man ist Coach, Ersatzelternteil, Streitschlichterin und beherrscht die hohe Kunst des Nahkampfs (haha).
Man muss verarzten und trösten. Letzteres ist gerade angesagt, denn Manu ist am Boden zerstört. „Die ganze Klasse ist gegen mich“, weint sie laut. Ich höre einfach zu, denn das tut schon mal gut. Warum, wieso? Was war los? Die ganze Geschichte ist für mich eigentlich gar nicht so schlimm, aber für Manu ein Mega-Drama. Verständnis ist jetzt wichtig. Wenn man als junger pubertierender Mensch großes Drama hat, ist alles andere unwichtig. Motto: „Mathe kann mich mal. Deutsch sowieso und lasst mich einfach in Ruhe!“
Aber denkt mal nach: War es nicht auch bei uns genauso? Ein Streit mit der Freundin, ein schiefer Blick eines Klassenkameraden, und schon war Feuer am Dach. Die Pubertät war für die meisten von uns eine Zeit, wo nichts wichtiger war, als zur Peer Group dazuzugehören. Und Hilfe und Unterstützung bei sozialen Problemen hat es damals viel weniger gegeben als heute: An unserer Mittelschule zum Beispiel ist man keine Nummer, hier gibt es Soziales Lernen und Beratungslehrer*innen. Man schaut hin und versucht, das Gröbste zu klären und den Kids zu helfen. Jede*r Schüler*in hat ihre/seine eigene Geschichte. Die kann wunderbar, aber auch grausam sein.
Und jetzt ist es gerade richtig grausam bei Manu. Tommy und Helene waren gemein und der Rest der Kasse gibt noch das letzte Scherflein dazu. Alle sind auf der Seite von Tommy und Helene. Solche Konstellationen sind schon als Erwachsener unangenehm, als Teenager ist es die Hölle auf Erden. Und für uns heißt es nun: Handeln! Aber wenn man gleich eingreift und die Kinder und Jugendlichen Vertrauen haben und zu einem kommen, ist das schon die halbe Miete. Dann kann geholfen werden.
In der 1c gibt es auch Stress. Sandro hat mal wieder keinen Bock und macht Stunk in der Pause. Er muss sich einfach ständig mit einem Klassenkollegen oder einer Klassenkollegin anlegen. Heute geht es um einen Radiergummi. Denn der gehört Jan, und Sandro gibt ihn nicht her. Mittlerweile gibt es zwei Gruppen, die sich gegenseitig anbrüllen. „Hallo? Was ist denn hier los?“, rufe ich in die Kasse. Gefühlt tausend Sätze werden mir entgegengeschleudert. Ich höre alles und eigentlich nichts. „Ruhe!“, brülle ich hinein und sage: „So und jetzt einer nach dem anderen. Was ist das Problem?“ Das Problem scheint generell Sandro zu sein, der sich häufig mit seinen Kolleg*innen anlegt und mittlerweile der Buhmann der Klasse ist. Ich nehme ihn mit und bringe ihn zu unserer Beratungslehrerin Frau G. Ist ja nicht das erste Mal … Was viele in Sandros Klasse nicht wissen: Seine Mama hat vor einigen Monaten von einem Tag auf den anderen die Familie verlassen. Sie ist auf und davon und hat Sandros Papa mit seinen zwei Geschwistern zurückgelassen. Was immer ihre Beweggründe waren, geht uns Lehrkräfte nichts an, aber Sandro geht uns sehr viel an und wir wollen, dass es ihm gut geht. Es gab schon viele Gespräche und es wird noch viele geben. Und irgendwann wird es besser werden. Hoffentlich!
Manu hat sich inzwischen beruhigt. Es gab ein Gespräch mit den Mitschüler*innen. Sie entschuldigen sich. Tommy und Helene müssen noch klärend auf ihre Freund*innen einwirken. Nur gemeinsam wird man das Thema lösen können. Doch: Es geht schon wieder einigermaßen.
Freunde finden, Freunde sein oder akzeptiert zu werden sind Themen, die Jugendliche sehr beschäftigen. Wir werden diese Themen immer haben und hatten sie selbst in der Jugend. Die Zeiten und Methoden ändern sich, aber die Themen bleiben gleich. Auch wenn Sandro ein schweres Packerl zu tragen und Manu Drama hat: Ein kleines Feuer ist für Lehrende auch immer eine Möglichkeit, Wasser zu holen, zu löschen und auch wenn es anstrengend ist, schön zu sehen, dass man helfen und etwas bewirken kann – und sei es nur im Kleinen.